Erscheinungsdatum: 12.2013
Originaltitel: „A Kiss for Midwinter“
1 ½ in der Serie „Geliebte Widersacher“
Alles beginnt mit einer Wette und einem Kuss…
Miss Lydia Charingfords Lächeln ist nie strahlender als zu Weihnachten. Mit ihrer Fröhlichkeit täuscht sie alle bis auf Dr. Jonas Grantham, der die Wahrheit über sie kennt. Lydias jugendlicher Fehltritt blieb ohne sichtbare Folgen, könnte sie aber noch immer ruinieren. Da kommen ihr die lästigen Gefühle, die sich in seiner Gegenwart jedes Mal unweigerlich einstellen, höchst ungelegen.
Jonas Grantham hat ebenfalls ein Geheimnis: Er ist schon über ein Jahr in Lydia verliebt. Aber die will von ihm nichts wissen. Doch diesen Winter ist er fest entschlossen, sie für sich zu gewinnen. Und er hat auch schon einen Plan. Nur sind bedauerlicherweise Pläne nicht unbedingt seine Stärke …
½. „Die Gouvernante und ihr geliebtes Ungeheuer“ |
1. „Der Herzog und seine geliebte Feindin“
1 ½. „Zärtlicher Winter“ |
2. „Die Erbin und ihr geliebter Verräter“ |
3. „Die Witwe und ihr geliebter Schuft“
4. „Der Schurke und seiner geliebter Blaustrumpf“ |
4½. „Zärtliches Geflüster“
„Wenn ich [Milans] Bücher lese, weiß ich, dass nicht nur etwas Gutes auf mich zukommt, sondern etwas Hervorragendes, Außergewöhnliches und Tiefgründiges.“
Leicester, September 1857
„IN IHREM ZUSTAND“, erklärte Dr. Parwine von der anderen Zimmerseite aus, „muss sie sich vor allem vor üblen Miasmen hüten.“
Die Atmosphäre im Zimmer war weder übel noch miasmatisch, fand Jonas Grantham, nur düster und angespannt. Das Mädchen – und unseligerweise war sie ein Mädchen, egal, in welcher Lage sie sich nun befand – saß steif auf einem Stuhl auf der anderen Seite des Behandlungszimmers. Sie hatte dunkles Haar, das sie offen trug. Ihre Figur wies noch keine der Veränderungen auf, die sich bald schon einstellen würden. Sie weinte nicht, obwohl Jonas annahm, dass es die meisten Mädchen in ihrer Situation tun würden. Sie schaute einfach geradeaus, die Hände im Schoß gefaltet. Vielleicht begriff sie auch gar nicht, was ihr geschehen war.
Er hatte sie vorher schon ein paar Mal gesehen. Er erinnerte sich, wie sie vor nur ein paar Jahren mit anderen Mädchen gespielt hatte, einen Reifen mit wehenden Bändern die Straße entlanggerollt hatte und laut lachend nebenher gelaufen war.
Sie sah immer noch mehr wie ein Mädchen als wie eine Frau aus, aber jetzt war kein Anzeichen von Lachen an ihr zu sehen.
„Üble Miasmen“, wiederholte die Mutter des Mädchens atemlos. „Was sind denn üble Miasmen?“
„Miasmen“, verkündete Parwine, „sind die Ursache aller Krankheiten und sind besonders schädlich für …“, er schaute zu dem Mädchen, kniff seine Augen zusammen. „Für Frauen in anderen Umständen“, beendete er seinen Satz. „Es gibt eine Reihe von Miasmen, die man meiden muss. Zum einen wäre da das Idiokino-Miasma, das von …“
Jonas Grantham kostete es einige Mühe, sich zu beherrschen und nicht die Augen zu verdrehen. Binnen Wochenfrist würde sein Medizinlehrgang im King’s College in London beginnen. Er hatte Studenten mit Abschlüssen aus Oxford und Cambridge ausgestochen und das begehrte dreijährige Warneford-Stipendium errungen. Die Zeit bis zur ersten Vorlesung, die am ersten Oktober um acht Uhr abends stattfinden sollte – von diesem Moment an gerechnet in sechs Tagen und sieben Stunden –, konnte er kaum noch abwarten. Und wenn er es mit Ignoranten wie Parwine zu tun hatte, wurde er nur noch ungeduldiger.
War das sein Ernst, Miasmen? Heutzutage noch? In diesen modernen Zeiten? Die Theorie der Miasmen war vor drei Jahren eindeutig als falsch bewiesen worden. Nur verbohrte alte Narren gaben noch solch einen Unsinn von sich. Aber Jonas hatte nun einmal darum gebeten, bei Dr. Parwine zu hospitieren. Er hatte den Vertrag in der Tasche, Dr. Parwines Praxis zu übernehmen, sobald er mit dem Studium fertig war. Parwine hatte klare Regeln aufgestellt: Er konnte gerne kommen, sich alles anschauen, wie es gemacht wurde, aber als ein ungebildeter (genau das Wort, das der Arzt verwendet hatte) junger Mann werde von ihm erwartet, den Mund zu halten. Und so kam es, dass Jonas hier stand und stumm zuhörte, während ein alter Mann von Miasmen schwatzte.
„Schließlich“, sagte Parwine gerade, „gibt es noch das Perkoino-Miasma, die Ursache des Gelbfiebers – aber Sie werden Ihre Tochter dem gewiss nicht aussetzen wollen.“
Die Eltern des Mädchens wechselten Blicke. „Nein, Dr. Parwine, natürlich nicht. Aber was sollen wir tun?“
Dass er den alten Arzt die letzten Wochen auf seinen Hausbesuchen begleitet hatte, war nicht vollkommen unnütz gewesen. Jonas hatte von Parwine eine Menge darüber gelernt, wie man kein guter Arzt war. Der brave Doktor hielt weitschweifige Vorträge gespickt mit medizinischen Fachbegriffen, die keiner seiner Patienten verstand, und voller Hypothesen, die in den letzten Jahrzehnten von der Medizinforschung widerlegt worden waren. Jonas benötigte seine gesamte Selbstbeherrschung – die selbst unter den besten Umständen kaum vorbildlich war – um den Mund zu halten. Er sagte sich, dass er das aus Respekt vor dem Alter tat, und bislang war es ihm auch gelungen. Aber nur knapp.
Parwine runzelte die Stirn. „Gegen Übelkeit und Erbrechen, die oft mit diesen anderen Umständen einhergehen, rate ich zu einem Elixier aus Lattichwasser und Blausäure. Nehmen Sie reichlich davon, und es wird die Symptome unterdrücken. Ich schreibe Ihnen ein Rezept für den Apotheker auf.“
Jonas richtete sich auf und machte einen Schritt nach vorne, bevor er sich fing.
Er hatte begonnen, für sein Studium medizinische Abhandlungen zu lesen und sich dabei Verbindungen und Inhaltsstoffe für Behandlungen einzuprägen. Blausäure war ein Gift. Es gab Ärzte, die kleinste Dosierungen als Mittel gegen Kopfschmerzen vorschlugen, andere als Linderungsmittel bei Krebsgeschwüren im Endstadium. Aber für eine Schwangere? Er konnte sich nicht daran erinnern, davon etwas gelesen zu haben. Dennoch, es war möglich. Und dann war da noch die alte Medizinerweisheit, dass die Dosis das Gift macht. Er biss sich auf die Lippe.
„Aber, Dr. Parwine“, wiederholte der Vater, „was soll mit meiner Tochter passieren? Sie ist … sie ist doch erst fünfzehn.“
Parwine musterte das Mädchen. „Was denken Sie?“, fragte er schließlich mit seiner leisen milden Stimme. „Behandeln Sie sie mit christlicher Nächstenliebe. Jetzt, da Sie wissen, was sie ist, schieben Sie sie in aller Stille irgendwohin ab.“
Die Mutter des Mädchens keuchte und brach in Tränen aus. Der Vater des Mädchens umklammerte die Lehne, sodass seine Fingerknöchel ganz weiß wurden. „Nein“, sagte er, als wollte er es nicht wahrhaben.
Die Einzige, die nichts darauf erwiderte, war das Mädchen selbst.
„Ich habe es schon hundert Mal gesehen“, erklärte Parwine kopfschüttelnd. „Sobald ein Mädchen erst einmal ruiniert ist, ist ihr Leben vorbei. Selbst wenn es Ihnen gelingt, ihren unglücklichen Zustand vor ihrer unmittelbaren Umgebung zu verbergen, ist das Mädchen nichts mehr wert. Ihr Leben wird eine von zwei möglichen Richtungen einschlagen. Wenn sie keine moralische Besserung erfährt, wird sie ihren unsittlichen Neigungen weiter nachgeben und eine peinliche Belastung für alle sein, die sie kennen. Sie wird sich früher oder später eine venerische Krankheit holen und daran in Schande sterben.“
„Nein.“ Der Vater ließ seine Hand auf die Schulter des Mädchens fallen. „Nein“, wiederholte er, dieses Mal selbstsicherer. „Das wird meinem kleinen Mädchen nicht passieren.“
„Dann akzeptieren Sie den anderen Weg, der sich Ihrer Tochter bietet. Wenn auch nur ein Rest Gutes in ihr ist, wird die Scham sie aufzehren. Sie wird nie geliebt werden, und sie wird dahinsiechen. Vermutlich stirbt sie jung und büßt auf diese Weise ihre Sünde. An diesem Punkt gibt es nichts zu tun, als sich mit der Wahrheit abzufinden. Ihre Tochter ist praktisch schon tot. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der Zustand auch tatsächlich eintritt.“ Parwine nickte dem Mann zu. „Ich kann nur die Symptome dieser Erkrankung behandeln“, verkündete er. „Gegen die Ursache – Sittenverfall – gibt es keine Kur.“
Der Vater zog ein Taschentuch hervor und betupfte sich ärgerlich die Augen. Von den dreien war die Tochter die Einzige, deren Augen trocken blieben. Sie blickte fast trotzig nach vorne.
Zur Hölle mit diesem verdammten Aberglauben. Jonas verfluchte sich selbst, dass er der Bedingung für seine Teilnahme an den Besuchen, nichts zu sagen, zugestimmt hatte. Er hatte sich nicht entschieden, Arzt zu werden, damit er den Tod von Kindern prophezeien konnte. Vielmehr war er den verführerischen Geschichten erlegen – wie denen von John Snow, der durch sorgfältige Beobachtungen Hunderte Leben rettete, von Männern, die die Welt um sie herum wahrnahmen, denen es nicht egal war und die nachdachten, Männer, die auf unvernünftiges Beharren auf Althergebrachtem verzichteten, um Therapien zu finden, die durch empirische Forschungen gestützt wurden.
Parwine packte seine Sachen ein und winkte Jonas, ihm zu folgen.
Ich habe noch keine wissenschaftlichen Studien gesehen, die die Vermutung nahelegen, dass Sittenverfall das Leben verkürzen kann, stellte er sich vor, zu dem Vater zu sagen, während er durch das Zimmer zur Tür ging.
Oder vielleicht auch: Nehmen Sie nicht die Blausäure. Was auch immer Sie tun, aber nehmen Sie keinesfalls die Blausäure.
Vielleicht könnte er ihm auch nur im Vorbeigehen zuflüstern: Glauben Sie ihm kein Wort.
Aber er hatte dem alten Arzt sein Wort gegeben. Außerdem kannte er seinen Platz. Er war nicht ganz einundzwanzig Jahre alt, hatte noch nicht einmal eine einzige Medizinvorlesung gehört. Es stand ihm nicht zu, öffentlich einem Mann zu widersprechen, der mehr als dreimal so alt war wie er. Außerdem, was wusste er schon? Ein wenig Buchwissen, das war alles, was er vorzuweisen hatte. Vielleicht irrte er sich. Vielleicht bedeutete Parwines Erfahrung, dass er es wirklich besser wusste.
Das war alles Unsinn, und er wusste es. Als er ging, richtete sich ihr Blick auf ihn. Er kannte noch nicht einmal ihren Namen, aber seine Schuldgefühle ließen ihn den Vorwurf in ihren Augen sehen. Sie könnten mir helfen.
Das war natürlich Einbildung. Niemand konnte Gedanken lesen, und schon gar nicht mit nur einem Blick. Es war sein eigenes Gewissen, das er in ihren Augen widergespiegelt sah. Aber er sagte nichts. Er sprach nicht, weil er jung war. Er sprach nicht, weil er an dem zweifelte, was er sich aus dem Arzneibuch eingeprägt hatte. Aber am meisten schmerzte ihn das Eingeständnis, dass er den Mund hielt, weil Parwine ihm seine Praxis angeboten hatte, wenn er seine Zulassung als Arzt bekommen hatte.
Es war der letzte Grund, an den er in den folgenden Wochen denken musste, als er einen der Medizinprofessoren nach der empfohlenen Dosis für Blausäure fragte. So wenig wie möglich, lautete die Antwort. Und für Schwangere? Niemals.
Noch Jahre danach träumte Jonas von ihren Augen – diesen harten, kalten und anklagenden Augen. Er hätte ihr helfen können.
Als er schließlich sein Studium beendet hatte, schwor er den Eid des Hippokrates auf den Arzt Apoll. Aber es war ihr Gesicht, das er sah, als er ihn sprach, ihr Blick, der sich in seinen bohrte, als er gelobte, niemandem zu schaden.
Fünf Jahre später
DER AUSSICHTSLOSESTE WUNSCH, den Jonas je hatte – die fixe Idee seines Lebens als Erwachsener – ging auf sein Übermaß an Vernunft zurück. Und trotzdem erschien alles, was er tat, in dem Moment, in dem er es tat, restlos Sinn zu ergeben.
Den Namen Lydia Charingford hörte er zum ersten Mal an einem strahlend schönen Sommertag fast fünf Jahre, nachdem er Parwine auf seine Hausbesuche begleitet hatte. Dass sie es war, entdeckte er nicht, weil er sie wiederkannte, sondern weil er genau das nicht tat. Ihm gefiel ihr Aussehen, daher fragte er seinen Freund nach der Sonntagsmesse, wer sie sei.
„Soll ich Sie mit ihr bekannt machen?“, fragte Toford mit einem wissenden Ausdruck in den Augen.
„Das hängt davon ab“, antwortete Jonas. „Ich versuche zu entscheiden, ob ich lieber eine kurze Zusammenfassung hätte oder die vollständigen Informationen.“
Toford runzelte die Stirn. „Um Himmels willen, Grantham, bitte drücken Sie sich verständlich aus. Was zum Teufel meinen Sie damit?“
Sie standen an einer Ecke des Kirchhofes und ließen ihre Blicke über die Menge gleiten. Es war ein schöner Spätsommertag, und alle Damen trugen ihre reizendsten und luftigsten Kleider. Die jungen Damen hatten ihm während der langatmigen Predigt des Pfarrers einladende Blicke zugeworfen. Jonas war jung, sah gut aus und verfügte – nachdem Parwine sich zur Ruhe gesetzt und er dessen Praxis vereinbarungsgemäß übernommen hatte – nunmehr über ein durchaus ansehnliches Einkommen.
Diese neugierigen hoffnungsvollen Blicke hatten dafür gesorgt, dass er sich sehr wohl fühlte. Der leichte Wind war angenehm, die Sonne schien warm, und die Damen wetteiferten darum, einen guten Eindruck auf ihn zu machen. Es war eine verdammt gute Zeit, ein Mann zu sein.
Er musterte die Damen seinerseits ebenfalls. Es war witzlos so zu tun, als täte er das nicht. Er wollte heiraten und musste sich nur eine Kandidatin aussuchen. Aber Toford starrte ihn weiter verwirrt an.
„Ich meine“, teilte ihm Jonas mit, „dass ich während der Messe eine Liste der zehn hübschesten jungen Damen in Leicester gemacht habe. Ich habe vor, mit jeder von ihnen zu sprechen.“
Toford nickte nachdenklich. „Ein guter Plan, Grantham, wirklich ein guter Plan. Ich habe es letztes Jahr ganz ähnlich angefangen, und sehen Sie nur, wie gut es bei mir geklappt hat.“
Mrs. Toford hatte viel zu lange Vorderzähne. Sie wäre nie auch nur in die Nähe von Jonas‘ Liste gekommen. Jonas murmelte höflich etwas Beifälliges.
„Zehn hingegen“, fuhr Toford fort. „Zehn, das sind eine Menge Frauen, mit denen man sprechen muss. Sie sind groß. Sie sind angesehen. Warum begnügen Sie sich nicht mit vier oder fünf? Es ist schon anstrengend genug, herauszufinden, ob eine Frau zu einem passt. Ich bekomme Kopfschmerzen, wenn ich nur daran denke, wie mühsam das ist, was Sie sich da vornehmen wollen.“
Jonas tat das mit einer Handbewegung ab. „Ja, gut. Ich habe eben einen anspruchsvollen Geschmack. Was ist, wenn Nummer eins schnaubt, wenn sie lacht? Was, wenn Nummer sechs unordentlich ist? Was, wenn Nummer acht mich nicht mag?“
„Sie nicht mögen?“ Toford hob die Brauen. „Grantham, ich glaube, da haben Sie etwas falsch verstanden.“ Er blickte sich um und senkte seine Stimme zu einem vertraulichen Flüstern: „Sehen Sie, wir sind Männer. Wir müssen nicht heiraten. Diese Mädchen hier? Sie haben gesehen, dass ihre Schwestern, ihre Freundinnen sitzengeblieben sind. Sie wissen, was ihnen blüht, wenn es ihnen nicht gelingt, sich einen Mann zu angeln. Sie müssen auf Teufel komm raus heiraten, und wir brauchen nur zu wählen.“
„Das mag schon sein, aber man weiß nie, was eine Frau abstoßend findet. Daher werfe ich mein Netz lieber breit aus, als am Ende gar nichts zu fangen. Und leider habe ich sehr wohl ein paar Charaktermängel.“
Beispielsweise war er sich ziemlich sicher, dass seine Liste hübscher Frauen aus der Stadt, nach äußerlicher Schönheit geordnet, nichts war, was Vertreterinnen des anderen Geschlechts anziehend finden würden. Er hatte außerdem beschlossen, dass es wohl besser sei, den Hauptgrund für seinen Wunsch zu heiraten, für sich zu behalten – dass er es für klug hielt, sich Zugang zu regelmäßigem Geschlechtsverkehr zu verschaffen, ohne das Risiko eingehen zu müssen, sich mit Syphilis zu infizieren.
„Mängel?“ Toford betrachtete ihn aus schmalen Augen. „Hm. Frauen sind wahrlich seltsam unlogische Geschöpfe. Miss Charingford hat welche Nummer auf Ihrer Liste?“
Da lag das Problem. „Elf. Nun, manchmal auch zehn – aber eben nicht immer. Meistens ist Miss Perrod auf Nummer zehn. Aber aus einem bestimmten Blickwinkel und bei gewissen Lichtverhältnissen …“ Er zuckte die Achseln. „Sie sehen mein Dilemma. Wenn ich mit den zehn hübschesten jungen Damen sprechen will, kann es angeraten sein, Miss Charingford hinzuzunehmen. Aber wenn ich das tue, habe ich elf und nicht zehn Kandidatinnen. Bei beidem fangen meine Hände an zu jucken.“ Er rieb sie sich, aber das nützte nichts. Dieses unangenehme Gefühl in seinen Handflächen war reine Einbildung, eine Art Echo des Juckreizes irgendwo in seinem Kopf.
„Vielleicht“, sagte Toford, „sollten Sie mit ihr reden – nicht für die Liste, verstehen Sie, sondern einfach, um sie sich mal aus der Nähe anzusehen. Um sich eine Meinung zu bilden, ob sie dazugehören soll oder nicht.“
„Ah“, sagte Jonas erleichtert. „Gute Idee.“
Was dazu führte, dass er sich ein paar Tage später auf einem Spaziergang durch einen Park befand, Miss Charingford an seiner Seite, ihre Hand auf seinem Arm, und sich fragte, wie rasch er sich wohl verabschieden könnte. Eine nähere Betrachtung hatte bestätigt, dass sie Nummer elf war. Eindeutig elf, angesichts dieser Sommersprossen, die er aus der Entfernung nicht gesehen hatte, und ihres zu breiten Lächelns. Weiterhin spielte sie die ganze Zeit mit den Bändern ihres Kleides und antwortete auf seine Versuche, Konversation zu machen, nur einsilbig.
„Wir haben wirklich schönes Wetter für September“, unternahm er einen weiteren Anlauf.
„Ach ja?“ Sie blickte stur geradeaus, die Lippen so verkniffen, dass sie eigentlich auf zwölf abrutschen müsste.
„Ja“, antwortete er. „Wirklich.“
Sie gingen weiter, schwiegen einander an.
„Vieles hat sich in meiner Abwesenheit hier in Leicester verändert“, versuchte er es wieder. „Das Emporium dort hat eine neue Fassade, nicht wahr?“
Sie wandte nicht einmal den Kopf in die Richtung, in die er zeigte. „Ach ja?“, fragte sie.
Ihre knappen Antworten weckten den Teufel in ihm. Er hatte nicht gelogen, als er behauptet hatte, er habe ein paar Charaktermängel. Er wandte sich zu ihr um und sagte, ohne sich um Höflichkeit zu bemühen: „Wissen Sie eigentlich, dass Sie, bevor ich diesen Satz gesprochen habe, nicht mehr als zwanzig Prozent der Worte zu unserer Unterhaltung beigetragen haben? Jetzt hingegen sind Sie näher an zehn Prozent. So geht das nicht, Miss Charingford, so geht das wirklich nicht.“
Neben ihm hielt sie den Kopf schief. „Ach, nicht?“
Er ballte seine Hand zur Faust, jetzt ehrlich verärgert. Er hatte seinen reichlich beschränkten Vorrat an höflicher Konversation aufgebraucht, aber sie versuchte es ja gar nicht erst. Sie sah ihn höchstens erbittert an.
„Ich glaube, das geht sehr wohl“, erwiderte sie. „Ich glaube, das geht sogar sehr gut, Dr. Grantham. Sie halten mich für leichte Beute.“
„Das tue ich?“ Er sah sie fragend an.
Sie schaute sich um, wie um sich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe war. „Nur, weil Sie um meinen Fehltritt wissen, das, was mir passiert ist, glauben Sie, ich sei für Ihre Schmeicheleien und Ihre Erpressung empfänglich.“
„Erpressung!“, wiederholte er überrascht.
„Es ist mir egal, was Sie von meinem Sittenverfall halten“, fauchte sie ihn an. „Ich bin noch am Leben und habe vor, das auch weiter zu bleiben. Ich weigere mich, ruiniert zu sein. Wenn Sie irgendetwas versuchen, werden Sie es bereuen.“
Es war der Ausdruck auf ihrem Gesicht, der seiner Erinnerung auf die Sprünge half – dieser trotzige, anklagende Blick, der sich erneut auf ihn richtete. Ihm stockte der Atem, als ihm wieder das Mädchen von vor fünf Jahren einfiel. Nachdem er gegangen war, hatte er sich noch lange um sie gesorgt. Jedes Mal, wenn er in den Jahren seither eine ledige Mutter oder eine Prostituierte gesehen hatte, hatte er daran denken müssen, welche Schrecken sein Schweigen ihr damals beschert haben mochte.
Die Antwort darauf lautete offensichtlich … keine. Dass er den Mund gehalten hatte, hatte für sie offenbar keinerlei Konsequenzen gehabt. Denn sie war hier, allgemein akzeptiert. Sie hatte nicht nur überlebt, es war ihr auch gelungen, das mit intaktem Ruf zu tun.
Sie funkelte ihn wütend an. „Also hören Sie auf, mich für ihr Bett Maß zu nehmen, Grantham“, sagte sie ihm. „Sie werden mich nicht kriegen.“
Er starrte sie an, versuchte sich zu sammeln, seine verwirrten Gefühle zu ordnen. Er hatte sie nicht wiedererkannt, aber sie ihn – der Unterschied zwischen fünfzehn und zwanzig war offenbar größer als der zwischen einundzwanzig und sechsundzwanzig. Sie war absichtlich unhöflich zu ihm. Sie dachte – oh Gott – sie dachte, er versuchte …
„Seien Sie unbesorgt, Miss Charingford“, sagte er. „Ich habe nicht versucht, Sie zu verführen. Ich bin zu keinerlei Schlussfolgerungen bezüglich Ihrer Tugend gekommen. Ich habe nur mit Ihnen geredet, weil Sie die elfthübscheste junge Frau in Leicester sind.“
Helle rosa Flecken erschienen auf ihren Wangen. „Oh?“ In ihrer Stimme schwang jetzt ein gefährlicher Unterton mit. „Ich bin die Elfte?“
„Das heißt … ich meine …“ Er schaute weg. „Scheiße. Das hatte ich so nicht sagen wollen.“
Sie schnappte bei seinem Kraftausdruck nicht nach Luft. „Gehen Sie bitte unbedingt weiter zu Nummer zwölf“, verlangte sie scharf. „Nummer elf will nichts mehr mit Ihnen zu tun haben.“
Sie hob die Nase – die elfthübscheste Nase in der ganzen Stadt – und ließ ihn stehen. Er schaute ihr nach, wie sie wegging, und in ihm herrschte Chaos.
Sie lebte. Sie hatte überlebt. Ihr Ruf hatte keinen Schaden genommen. Sie ging zu einer anderen Frau, die im Park auf einer Bank auf sie gewartet hatte. Die Köpfe unter den Hüten zusammengesteckt, ein hellbrauner Schopf neben einem schwarzen, lachten sie.
Er hatte nie irgendetwas so Lebendiges gesehen, so voller Leben.
„Mist“, wiederholte er tonlos.
Ihr Gelächter schien ihm wie der Abgesang auf den Aberglauben der vergangenen hundert Jahre. Es war wie ein helles Licht, das auf die dunklen Miasmen der Medizin des letzten Jahrhunderts fiel.
Leben Sie, Miss Charingford. Leben Sie.
Sie hakte sich bei ihrer Freundin unter – einer jungen Dame, die es gar nicht erst auf seine Liste geschafft hatte – und schlenderte mit ihr davon.
Er fühlte sich, als sei er von einer Kanonenkugel getroffen worden. Einer der Mängel seines Charakters war sein ausgeprägter Widerspruchsgeist. Gesagt zu bekommen, dass er etwas nicht haben konnte, weckte nur umso mehr den Wunsch ihn ihm, es zu haben. Und im Moment wollte er sie. Er wollte sie unbedingt.
Toford kam zu ihm. „Und? Welche Nummer ist sie?“
„Elf“, antwortete er.
„Also nicht auf der Liste.“ Toford zuckte die Achseln.
„Nein.“ Er konnte immer noch nicht seinen Blick von ihr losreißen. „Nein, sie ist drauf. Die Liste geht bis elf.“
Das war gelogen. Er wusste, dass es gelogen war, noch während er das sagte. Sein Verstand, der gewöhnlich das Sagen hatte, protestierte. Er hatte gehofft, in den nächsten Monaten eine Familie zu gründen. Und er hatte sich wirklich darauf gefreut, besagten Zugang zu sicherem, regelmäßigem Geschlechtsverkehr zu bekommen. Es gab buchstäblich Dutzende von Frauen, die willens wären, ihm den zu bieten – junge hübsche Frauen, die ihn tatsächlich ermutigend anlächelten, statt ihm versuchte Verführung zu unterstellen.
Miss Charingford wollte noch nicht einmal mit ihm sprechen. Es ergab keinen Sinn, dass er sie überhaupt in Erwägung zog.
Aber es war zu spät. Miss Lydia Charingford war nicht nur auf der Liste.
Sie war die Liste, und er konnte nur hoffen, dass der Allmächtige sich seiner erbarmte.