Begierde kennt kein Gesetz

Begierde kennt kein Gesetz

von Cora Verlag und selbstverlag
Taschenbuch: 16. September 2014
ebook: 9. Februar 2015 Originaltitel: „Unraveled
Band 3 in der Turner-Serie

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Um ihre bettelarmen Freunde vor dem Kerker zu bewahren, ist der schönen Miranda jedes Mittel recht. Immer neue Verkleidungen ersinnt sie, um als falsche Zeugin das Gericht zu narren. Als sie jedoch auf den scharfsinnigen Richter Smite Turner trifft, wird ihr die tolldreiste Maskerade fast zum Verhängnis. Zwar kommt sie mit einer Warnung davon, doch der attraktive und seltsam gefühlskalte Gentleman geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Als der berüchtigte Moralist ihr ein unerwartet unmoralisches Angebot macht, zögert sie keine Sekunde. Sie ahnt, dass sich hinter Smites gewissenhafter Fassade ein faszinierendes Geheimnis verbirgt …

Kapitel eins

NUN, BILLY CROGGINS, WARUM SIND Sie diesmal hier?“

Die Verhandlungen der Bagatelldelikte hatten bereits begonnen, als Miranda Darling in den düsteren Verhandlungssaal schlüpfte. Sie zog den Kopf ein und sah zu Boden, um keine Auf-merksamkeit zu erregen. Heute spielte sie eine junge Dame. Das hieß, aufrecht zu stehen, die Augen schüchtern zu senken und die Arme an den Körper ZU pressen. Eine junge Dame zupfte nicht an ihrer Frisur herum, und sie kratzte sich bestimmt nicht an der Stelle, an der unter der Perücke eine verrutschte Haarnadel sich in die Kopfhaut bohrte. Heute hing ihre Zukunft von ihrem Auftritt ab.

Das war an sich nichts Neues. Die Zukunft war eine ständige Last, die sie niederdrückte. Manchmal fühlte sie sich wie einer der Akrobaten, die in Astleys Zirkus, den sie, als sie noch ein Kind war, mit ihrem Vater besucht hatte, auf bloßen Pferderücken ihre Saltos schlugen. Eine falsche Bewegung beim Salto rückwärts, und man stürzte zu Boden. Ähnlich wie die Akrobaten konnte sie nur so tun, als hätte sie sicheren Halt, sie konnte nur ihr Bestes geben und das Pub-likum anlächeln, egal, was kommen würde.

Heute gab es einige Zuschauer; es saßen bestimmt zehn oder fünfzehn Männer und Frauen auf den Holzbänken des Verhandlungssaals. Mirandas Hände kribbelten vor fahriger Energie. Sie strich über den edlen Musselinstoff ihres geborgten Kleides und zählte die Atemzüge, bis ihre innere Anspannung zu einem kleinen, nervösen Klumpen zusammenschmolz.

Der weißhaarige Mann vorne im Saal – man hatte ihn Billy Croggins genannt – schien über-haupt nicht nervös zu sein. Sein Gesicht war rot, und er antwortete auf die Frage unbeeindruckt mit einem Schulterzucken.

„Warum, Euer Ehren? Ich bin aus demselben Grund hier wie immer. Ich hatte ein bisschen zu viel getrunken.“ Er hob die Hand und ahmte eine Trinkbewegung nach. „Ich habe mich etwas danebenbenommen. Sie haben gehört, was meine Tochter gesagt hat.“ Croggins grinste ein-nehmend.

Gemessen daran, dass er Trinker war, hatte er erstaunlich gute Zähne. Miranda schlich den Mittelgang entlang und schlüpfte auf einen leeren Platz in der ersten Reihe. Billy Croggins hatte auch eine gut geformte Nase. Sein weißes strubbeliges Haar verlieh ihm den Ausdruck beein-druckender Exzentrizität. Sehr nützlich, wenn man ein Faulenzer war.

Niemand bemerkte Miranda, als sie ihren Rock glättete. Alle Augen waren auf das Schauspiel dort vorne gerichtet, auch wenn es noch so unbedeutend war.

Dies war nicht das Geschworenengericht, wo Mörder und Diebe zum Tode oder zur Deportati-on verurteilt wurden. Die Friedensrichter hier entschieden über kleinere Diebstähle, über Schlä-gereien oder unzüchtiges Verhalten in der Öffentlichkeit. Geldstrafen wurden verhängt, und manche Männer wurden mit der Strafe belegt, einige Tage im Gefängnis einzusitzen. Es stand nicht viel auf dem Spiel, und die Verbrechen waren nur deshalb so interessant, weil der eigene Nachbar sie verübt hatte.

Miranda hatte sich noch nicht gestattet, zu den Richtern hinüberzublicken. Es war ein alter Aberglaube – man linste vor einer Vorstellung nicht durch den Vorhang, um das Publikum an-zusehen. Denn das brachte Unglück.

Die schmucklosen weißen Wände schienen die Kühle des Herbstes noch zu verstärken, doch Miranda schlüpfte aus ihrem abgetragenen Mantel und nahm ihre Haube ab, wobei sie sich Mühe gab, die blonde Perücke, die sie heute Morgen aufgesetzt hatte, nicht verrutschen zu las-sen.

„Was soll das bedeuten?“, fragte einer der Richter. „Sie erscheinen zum fünften Mal vor Ge-richt?“ Seine Stimme kam ihr bekannt vor. Zu bekannt.

Sie durfte ihn nicht ansehen, durfte ihre Bestürzung nicht zeigen. Stattdessen umklammerte Miranda ihren wollenen Mantel, zwang sich aber, den Griff zu lockern, bevor die Geste sie mög-licherweise verriet.

„Sie haben wie immer recht, Euer Ehren“, antwortete Croggins fröhlich.

Rechts von Miranda saß der Gerichtsschreiber und hielt seinen Federhalter ruhig über das Tin-tenfass. Er hatte seit ein paar Minuten nichts mehr niedergeschrieben.

Miranda beugte sich zu ihm hinüber und erklärte in eindringlichem Flüsterton: „Sir, ich war Zeugin bei einem der Vergehen, die heute hier verhandelt werden. Der Angeklagte ist ein Junge von etwa zwölf Jahren …“

Der Gerichtsschreiber schaute sie an, runzelte die Stirn und sah dann weg. „Sagen Sie mir Be-scheid, wenn er an der Reihe ist“, flüsterte er barsch. „Ich bin beschäftigt.“

Er sah alles andere als beschäftigt aus. Die Mitschrift beschränkte sich auf: Betrunken. Schuld eingestanden. Verurteilt. Billy Croggins war zwar noch nicht verurteilt worden, aber Miranda konnte dem Schreiber keinen Vorwurf machen, dass er das Ergebnis bereits vorweggenommen hatte.

„Wenn wir Sie immer wieder für schuldig befinden, warum hören Sie dann nicht einfach auf?“ Diese Stimme, dünn und näselnd, kam von links. „Turner – was ist gleich wieder die Strafe?“

Turner. Also hatte sie die Stimme vorhin tatsächlich wiedererkannt. Erneut durchfuhr sie die Nervosität wie ein Blitzschlag, diesmal gemischt mit Angst. Dennoch ließ sie Billy Croggins nicht aus den Augen.

Der Angeklagte grinste unbeeindruckt. „Ich wette, ich kenne die Strafe inzwischen. Für die Wiederholung der Straftat zehn Pfund, die ich nicht besitze – daher sechs Stunden im Block.“

„Keine Sorge, Billy“, rief jemand aus dem Publikum. „Wir sorgen dafür, dass die Rüben weich und faul sind, bevor wir sie werfen, damit sie dein hübsches Gesicht nicht ruinieren.“

Im Saal erscholl Gelächter.

„Meine Herren“, ließ sich eine weitere Stimme vernehmen, „er wird verurteilt.“

Alle drehten sich um, um die Richter anzusehen, die auf der linken Seite des Raumes saßen. Es wäre verdächtig gewesen, wenn sie es den anderen nicht nachgetan hätte, und nur deshalb hob Miranda den Kopf. Die drei Richter, deren Aufgabe es heute war, sich mit den anstehenden Fällen auseinanderzusetzen, thronten hinter einem schweren Richtertisch aus Eichenholz. Alle trugen sie das Gleiche: gelockte, weiß gepuderte Pferdehaarperücken und schwere schwarze Roben. Der Richter in der Mitte mit dem roten Gesicht war der Bürgermeister. Zu seiner Linken saß ein Mann, den Miranda noch nie zuvor gesehen hatte. Seine Perücke saß leicht schief.

„Ach ja“, erklärte Croggins, „was ist schon eine weitere Verurteilung unter Freunden?“

Zur Rechten, etwa zwei Fuß von seinen Kollegen entfernt … „Vielleicht“, meinte dieser Richter, „darf ich ein paar Fragen stellen, bevor wir ein vorschnelles Urteil fällen?“

Miranda schluckte. Das war Richter Turner – besser bekannt als Lord Justice.

Sein Gesicht war nicht rot. Seine Perücke saß perfekt. Und während die anderen Friedensrich-ter sich über Croggins Kapriolen amüsierten, sah Lord Justice in seiner schwarzen Robe düster aus wie eine Krähe, ernst und unerbittlich. Miranda glaubte die Geschichten, die man sich über ihn erzählte.

„Immer allen Dingen auf den Grund gehen, Turner“, sagte der Bürgermeister verärgert. „Nun gut. Ich vermute, Sie müssen Ihren Willen durchsetzen. Aber ich sehe nicht, wozu das gut sein soll, da der Mann seine Schuld bereits eingestanden hat.“

Verglichen mit seinen Kollegen sah Lord Justice eher aus wie die Statue eines Richters, nicht wie ein Mensch aus Fleisch und Blut. Der Name, den man ihm gegeben hatte, passte. Justice ließ Miranda an Kompromisslosigkeit und unbeugsame Entschlossenheit denken. Lord Justice suchte den Saal mit scharfen, aufmerksamen Augen ab, die alles auf einmal wahrzunehmen schienen.

Man munkelte, Lord Justice könne eine Lüge auf zwanzig Schritte riechen. Miranda saß keine fünfzehn Schritte von ihm entfernt.

Ihn nur anzusehen verursachte ihr eine Gänsehaut. Sie hatte schon einmal vor ihm erscheinen müssen. Nur an die Fragen zu denken, die er ihr gestellt hatte, oder an die Art und Weise, wie seine Augen sie durchbohrt hatten, ließ die Haut in ihrem Nacken kribbeln. Und damals hatte sie sogar die Wahrheit gesagt.

„Vielleicht“, ließ sich Lord Justice vernehmen, „könnten Sie mir helfen, zu verstehen, was letzte Nacht vorgefallen ist. Ich habe die Aussage Ihrer Tochter gehört. Aber ich möchte es aus Ihrem Mund hören. Wie kam es zu dem Brand?“

„Ach“, erwiderte Billy Croggins, „das wäre dann das Betrunkensein im Stück ‚Trunksucht und Ordnungswidrigkeit‘?“ Er setzte ein gewinnendes Lächeln auf.

Doch so leicht gewann man Lord Justice nicht für sich. Er legte die Fingerspitzen aneinander. „Haben Sie aus freien Stücken getrunken? Oder hat man Sie gezwungen, zu trinken?“

„Ich wäre den Leuten, Euer Ehren, die mich zwingen würden, zu trinken, sehr verbunden. Al-lerdings habe ich, wie jeder andere Dummkopf auch, dafür zahlen müssen.“

Als einzige Reaktion auf diese Witzelei verzog sich der Mund des Friedensrichters zu einer schmalen Linie. „Als Sie betrunken waren, sind Sie zum Haus Ihrer Tochter gegangen?“

„Ja, und können Sie sich vorstellen, dass mein eigenes Kind mir die Tür nicht aufmachen woll-te? Hat mir gesagt, ich solle weggehen und wiederkommen, wenn ich nüchtern sei. Wenn ich darauf warten würde, würde ich meine Enkel überhaupt nicht mehr sehen, nicht bis der Erzen-gel Gabriel seine Posaune am Jüngsten Tag bläst.“

Eine Frau in der Menge lachte laut und schrill auf, und der Bürgermeister musste ein Grinsen hinter seinem Ärmel verbergen.

Lord Justice jedoch konnte nicht darüber lachen. Er trommelte mit seinen Fingern auf den Richtertisch. „Und daraufhin warfen Sie die Laterne in den Holzschuppen und drohten Ihrer Tochter, sie auszuräuchern?“

Das Lächeln auf Croggins Gesicht erstarrte. „Schon möglich, schon möglich. Hab nicht so klar gedacht zu dem Zeitpunkt. Ich hab ihren Holzschuppen auch nicht wirklich niedergebrannt – wollte sie nur ein bisschen erschrecken, damit sie ihrem Vater etwas Respekt zeigt. Außerdem schien es eine gute Idee zu sein. Na ja, zu dem Zeitpunkt wenigstens.“

Lord Justice seufzte und lehnte sich zurück. „Sehen Sie, Billy Croggins, das ist das, was mir Sorgen bereitet. Jeder hier im Gerichtssaal scheint Sie für einen lustigen Kerl zu halten. Jeder findet Sie amüsant. Alle lachen. Alle, außer Ihre Tochter. Warum, glauben Sie, ist das so?“

„Sie hat keinen Sinn für Humor.“

Ein paar unterdrückte Lacher kamen aus dem Publikum, aber sie waren jetzt schwächer und klangen etwas nervös.

„Nun, hier hören Sie meine Vermutung: Ihre beiden kleinen Kinder waren im Haus, als Sie ver-sucht haben, Ihre Tochter auszuräuchern. Vielleicht konnte sie das nicht komisch finden, weil das Leben ihrer Kinder gefährdet wurde.“

„Oh, es war doch nur der Holzschuppen!“

„Es war ein Nebengebäude im Innenhof und direkt an das Wohnhaus angebaut“, korrigierte Lord Justice. Sein Blick war auf einen weit entfernten Punkt gerichtet, als lese er diese Worte von einer Seite, die nur er sehen konnte. „Dem Gesetz König Georges zufolge ist das Brandstif-tung.“

„Brandstiftung! Aber das Holz hat ja kaum gequalmt!“

Lord Justice lehnte sich über den Richtertisch nach vorne. „Brandstiftung!“, wiederholte er be-stimmt. „Da Sie nicht erfolgreich waren, versuchte Brandstiftung, und diese wird mit einem Jahr Zwangsarbeit bestraft. Meinen Sie, das wird Sie ausnüchtern?“

„Euer Ehren, ich war betrunken. Ich wusste nicht, was ich tat.“

„Laut des Urteils von Lord Hale ist ein Mann, der sich aus freien Stücken betrinkt, so verant-wortlich für seine Taten, als sei er nüchtern gewesen.“

Croggins sah sich um. Das Gelächter im Verhandlungssaal war verstummt. Lord Justice hatte ihnen allen das Lachen vergehen lassen. Seine Ausführungen waren nur ein weiteres Beispiel dafür, wie Richter Turner zu seinem Namen gekommen war.

Miranda ballte die Fäuste und biss sich auf die Unterlippe. Sie konnte nur hoffen, dass er sie nicht so genau befragen würde.

„Turner“, sagte der Bürgermeister, „wir verhandeln hier Bagatelldelikte. Wir haben keine Be-fugnis, eine Anklage wegen Brandstiftung in einem Schnellverfahren zu verhandeln.“

„Ganz recht“, erwiderte Lord Justice. „Croggins wurde auch nicht wegen Brandstiftung ange-klagt. Aber wir können den Fall einstellen und ihn festhalten, bis das Quartalsgericht zusam-mentritt. Ich habe genug Zeugen gehört, um ihn anzuklagen, wenn das Geschworenengericht das nächste Mal tagt.“

Es war nicht Richter Turners Aussehen, das ihm den Spitznamen Lord Justice eingebracht hat-te. In den zwei Jahren, bevor er Friedensrichter geworden war, hatte das Gericht für Bagatellfäl-le bis auf einen alle Angeklagten verurteilt. In den ersten sechs Monaten seiner Amtszeit hatte Turner über ein Dutzend Leute mit der Begründung, dass ihre Schuld nicht bewiesen sei, laufen lassen. Aber er war nicht freundlich, im Gegenteil. Die Schuldigen bestrafte er mit harter Ent-schlossenheit.

Der „Lord“ rührte daher, dass er der Bruder eines Dukes war. Aber sie nannten ihn „Justice“, Gerechtigkeit, weil er ebenso unberechenbar – und durchaus auch freundlich – wie das Wetter sein konnte. Man wusste nie, was einen erwarten würde, und keine Beschwerde oder Bitte konnte das Ergebnis ändern.

Billy Croggins fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Lord Justice, bitte! Haben Sie Mitleid!“

Der Friedensrichter schüttelte den Kopf. „Die korrekte Anrede lautet ‚Euer Ehren‘.“

Croggins runzelte die Stirn.

„Wie dem auch sei“, fuhr Lord Justice fort, „hätte das Haus tatsächlich Feuer gefangen, hätten Sie vielleicht Ihre Tochter und Ihre Enkelkinder getötet.“ Er hielt inne und sah sich im Saal um.

Er raubte seinem Publikum den Atem und steigerte die Spannung in diesen wenigen Sekun-den, die wie eine Ewigkeit erschienen, ins Unerträgliche. Wäre dies eine Theatervorstellung gewesen, hätte Miranda wegen der perfekten Wahl des richtigen Zeitpunkts applaudiert. Aber dies war kein Theaterstück, das das Publikum amüsieren sollte. Dies war die Wirklichkeit.

Lord Justice sah den Angeklagten an. Er sprach leise, aber seine Worte waren in der ange-spannten Stille deutlich zu hören. „Ich habe Mitleid, Mr Croggins. Nur nicht mit Ihnen. Nicht mit Ihnen!“

Miranda schloss die Augen. Sie hatte dies bereits etliche Male zuvor getan: sich auf Geheiß des Patrons in die Verhandlungen geschlichen und Zeugenaussagen abgegeben, die die Verur-teilung eines bestimmten Angeklagten verhindern sollten. Die anderen Richter zweifelten nie-mals an der Aussage einer vornehmen jungen Dame.

Aber Turner stellte Fragen. Er hörte zu. Er hörte die Dinge heraus, die man eigentlich gar nicht sagen wollte. Sie hatte nur einmal mit ihm zu tun gehabt – vor etwas mehr als einem Jahr, just das erste Mal, als sie eine Zeugenaussage machen sollte. Es war das einzige Mal gewesen, dass sie tatsächlich das zu verhandelnde Vergehen beobachtet hatte. Turner hatte damals auch den letzten Tropfen Wahrheit aus ihr herausgequetscht.

Sie konnte heute des Friedensrichters Art von Mitleid sicher nicht gebrauchen.

„Ich werde die Befragung durchführen“, erklärte Turner. „Palter, lassen Sie Mr Croggins nicht gehen.“

Eine betretene Stille herrschte im Verhandlungssaal, die nur von einem gelegentlichen Schar-ren der Füße unterbrochen wurde.

„Rufen Sie den nächsten Fall auf“, murmelte der Bürgermeister.

Der Schreiber neben Miranda begann zu sprechen. Währenddessen ließ Lord Justice seinen Blick über die Zuschauer schweifen. Er blieb kurz an ihr hängen. Nein, es musste eine Einbil-dung sein, die ihr weismachte, dass er seine Augen kurz bei ihr verweilen ließ. Dennoch zitterte sie.

Unter seiner weiten Robe mochte er fett oder schlank sein. Was sie betraf, so konnte er ge-nauso die Tentakel eines Tintenfischs darunter verbergen. Durch die lange weiße Perücke wirk-te er hager und streng. Seltsamerweise ließ ihn all das Schwarz und Weiß beinahe jung er-scheinen. Aber das konnte nicht sein. Ein Mann, der das Gesetz so wie er auslegte, musste alt sein.

Lüge diesen Mann besser nicht an. Dieser Gedanke erschien so natürlich, so boh-rend wie der Hunger und so heftig wie die Kälte. Doch wenn sie jetzt ginge, würde sie den Schutz des Patrons verlieren, den sie so dringend brauchte. Und Robbie … Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken. Man antwortete nicht mit einem Nein auf die Bitte des Patrons. Nicht einmal dann, wenn einem eine Anklage drohte.

Sie hatte ihre Befehle vor zwei Stunden erhalten. Sie sollte für Widdy aussagen, dafür sorgen, dass er nicht verurteilt wurde.

Sie wusste nicht, warum. Der Patron begründete nie etwas. Einmal, in einem Anflug von Wahnsinn, hatte sie nachgefragt, und sie würde niemals die Antwort vergessen, die der Bote des Patrons ihr gegeben hatte.

In Temple Parish sorgt der Patron für Gerechtigkeit, nicht die Richter.

Ein Beamter schlurfte heran und brachte … oh ja, er brachte Widdy nach vorne.

Der Junge wirkte klein und verängstigt. Das harte Leben eines Gassenjungen in Temple Parish hatte ihn vor langer Zeit zerbrechen lassen. Sie bezweifelte, dass die Freilassung Widdys ir-gendetwas bezweckte. Sie war nur ein Symbol dafür, dass der Patron mächtiger war als das Gesetz.

Sie hörte aufmerksam zu, als der Bäcker, der den Fall zur Anzeige gebracht hatte – ein rotge-sichtiger Mann namens Pathington –, gegen Widdy und alle anderen Plagen, die ehrliche Kauf-leute befielen, wetterte. Der Junge sah verwirrt und verzweifelt aus, während er der Schimpfti-rade lauschte.

Als der Bäcker seine übertriebene Schilderung des Vergehens, der Niedertracht und des Ver-lustes eines halben Laibes Brot beendet hatte, war es Lord Justice, der sich an Widdy wandte. „Wie heißen Sie, junger Mann?“

Widdy schluckte. „Widdy.“

Eine Pause entstand. Der Schreiber neben Miranda notierte den Namen und sah dann auf. „Verzeihung, Euer Ehren. Ist das sein Vor- oder sein Nachname?“

Widdy wirkte bedrängt.

„Nun?“, fragte der Bürgermeister. „Sprich. Ist das eine Abkürzung für irgendetwas?“

„Ja.“ Widdy trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.

Ein unterdrücktes Lachen kam aus der Zuschauermenge.

„Nun, wofür?“

„Ich weiß nich. Meine Mutter hat mich damals Widdy genannt.“

„Und wie lautet der Name deiner Mutter?“

Widdy sah beiseite.

„Nun, Junge“, donnerte der Richter mit der schief sitzenden Perücke, „wie ist der Name deiner Mutter?“

Widdy sank in sich zusammen. „Die Leute nannten sie Ginnie.“

Wieder ertönte Gelächter. Diesmal klang es etwas bösartiger und grausamer.

Lord Justice ließ einen ärgerlichen Blick durch den Raum gleiten. „Was tat sie?“

„Sie ist tot“, erwiderte Widdy ernst. „Aber sie hat Gin getrunken.“

Im Verhandlungssaal brach schallendes Gelächter aus. Lord Justice konnte sich nicht einmal ein Lächeln abringen. „Arbeiten Sie? Haben Sie einen Platz zum Schlafen?“

„Manchmal fege ich die Straßen. Ich halte die Pferde, wenn Herren in die Geschäfte gehen. Das mach ich am liebsten. Manchmal gebe ich billy-dus ab.“

„Billy-dus?“, der Mund des Bürgermeisters zuckte.

„Für Damen“, erklärte Widdy ernst. „Wenn sie nicht wollen, dass jemand liest, was sie schrei-ben.“

Der mit der schiefen Perücke lehnte sich vor und stupste den Bürgermeister am Ellbogen an. „Ich glaube, der Junge meint billet-doux, Liebesbriefe.“ Sein Mund zuckte und form-te sich zu einem selbstgerechten Lächeln.

Lord Justice blickte kurz in ihre Richtung, konnte aber ihr Vergnügen nicht teilen. „Haben Sie das Brot genommen?“

„Nein, Sir. Es war nicht meins.“

„Das sagen sie alle“, sagte Schiefperücke und schüttelte den Kopf. „Sein Wort steht gegen das eines respektablen Geschäftsmanns. Ich glaube dem Mann, der keine billy-dus ausliefert.“

Das war ein gutes Stichwort. Alle ihre Ängste unterdrückend, holte Miranda tief Luft. Dann stupste sie den Schreiber erneut an. Er erschrak, verspritzte Tinte und sah sie an. Miranda deu-tete auf Widdy, und der Schreiber hustete.

„Euer Ehren“, warf er ein, „hier ist eine Dame, die behauptet, die ganze Angelegenheit beo-bachtet zu haben.“

„Wo ist sie?“, wollte der Bürgermeister wissen.

Der Schreiber deutete mit dem Kopf in Mirandas Richtung. Sie fühlte sich, als wäre sie auf eine Bühne gestoßen worden. Alle Augen im Saal waren auf sie gerichtet. Ihr wurde erst eiskalt, dann heiß. Dennoch, sobald sie aufstand, spürte sie, wie sehr sie die Vorstellung genießen würde.

„Euer Ehren.“ Der jungen Dame, die sie spielte, zitterten vielleicht wirklich die Hände. Sie wür-de den Blick vor Lord Justice senken. „Ich habe die besagten Vorgänge beobachtet. Dieser Junge hat nur zugesehen.“ Die Worte fühlten sich breiig an in ihrem Mund. Sie siedelte ihre Aussprache irgendwo zwischen aristokratisch weich und zurückhaltend an und fügte noch einen Hauch Ländlichkeit hinzu. Sie musste sich gerade so an der Grenze der Respektabilität befin-den. In diesem Kleid würde ihr keiner abkaufen, reich zu sein.

Niemand sagte etwas, und so blickte sie weiterhin zu Boden. Wie viele Menschen hatten schon hier gestanden und auf das Beste gehofft? Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißtropfen. Nach einigen Augenblicken – eigentlich nur nach Sekunden, die sich jedoch wie eine Ewigkeit anfühl-ten – wagte sie es, aufzuschauen.

Das Kinn auf eine Hand gestützt, sah Lord Justice sie ohne mit der Wimper zu zucken an. Falls es einen Hauch von Nachgiebigkeit in seinem Umgang mit Widdy gegeben hatte, so war er nach ihrem Auftritt verschwunden. Neben ihm runzelte einer seiner Kollegen irritiert die Stirn.

Es wäre ein Fehler gewesen, hätte sie die anhaltende Stille genutzt, um zu reden. Das wäre als Geschwätzigkeit und überhaupt zu viel Offenherzigkeit gewertet worden. Sie senkte den Kopf und betrachtete stattdessen den Boden.

Lord Justice sprach als Erster. „Sie haben alles beobachtet.“ So, wie er es sagte, war es keine Frage. Dennoch nickte sie bestätigend.

Neben ihr scharrte der Schreiber mit den Füßen. „Soll sie vereidigt werden?“

Lord Justice winkte ab. „Wie heißen Sie?“

„Whitaker“, erwiderte Miranda. „Miss Daisy Whitaker.“

Ihr Tageskleid aus strapazierfähigem Musselin war eines, das ein Mädchen vom Lande tragen würde. Auch hatte er bereits ihre Aussprache bemerkt. Er sah flüchtig an ihr vorbei, dann blickte er in den Saal, um schließlich fragend eine Braue zu heben.

„Sie sind ohne Begleitung hier“, bemerkte er.

„Mein Vater ist Gutsbesitzer. Er besucht den hiesigen Markt und hat mich in die Stadt mitge-nommen. Ich bin zum ersten Mal hier.“ Miranda zog den Kopf ein. „Ich dachte nicht, dass es falsch wäre, hierherzukommen. Oder war es das doch?“ Sie blickte nochmals durch ihre dunk-len Wimpern auf und versuchte, ihn mit ihren Gedanken dazu zu zwingen, in ihr das halsstarri-ge Mädchen aus Somerset zu sehen. Jemanden, der es nicht gewohnt war, ständig begleitet zu werden. Jemanden, der allein durch die Felder nach Hause lief. Sie wollte, dass er in ihr ein naives junges Ding sah, das so unschuldig war, dass es glaubte, allein durch die Stadt zu ge-hen unterschied sich in keinster Weise davon, einen staubigen Weg entlangzuschlendern.

„Ich musste herkommen“, fügte sie leise hinzu. „Er ist doch noch ein Kind, Euer Ehren.“

Lord Justice betrachtete sie noch eine weitere Minute – als wäre sie eine Maus und er die Eule, die sich gerade auf sie stürzen und verschlingen wollte. „Wo wohnen Sie und Ihr Vater hier in Bristol?“

„Im Lamb Inn.“

Er wandte seinen Blick von ihr ab. „Mr Pathington, auf welche Weise hat Master Widdy den Brotlaib aus Ihrem Geschäft entwendet?“

Der Bäcker, der die Anschuldigungen hervorgebracht hatte, hob ruckartig den Kopf. „Ich … na ja … also, ich habe nicht gesehen, dass er ihn genommen hat. Aber es war sonst niemand da. Ich habe ihn gesehen, habe mich nur für einen Augenblick umgedreht, und als ich mich wieder zu ihm umwandte, war der Laib verschwunden. Wer sonst sollte ihn genommen haben?“

Lord Justice trommelte mit den Fingern auf den Richtertisch. „Wie lang genau war der Augen-blick?“

„Wie bitte?“

„Schätzen Sie, wie lange Sie abgewandt dagestanden haben. Was haben Sie gemacht?“

„Ich habe das Wechselgeld für eine Half-Crown-Münze gezählt, Euer Ehren.“

Friedensrichter Turner sah auf und wieder weg, als ob er rechnete. „Also ungefähr eine halbe Minute. Sie verlangen von mir, diesen Jungen, der kein Brot bei sich hatte, als er verhaftet wur-de, zu bestrafen, weil Sie nicht auf Ihren Laden geachtet haben?“

Pathington lief rot an. „Nun, Euer Ehren, so würde ich es nicht ausdrücken …“

Lord Justice wandte sich an die anderen Richter. „Meiner Meinung nach konnten die Anschul-digungen nicht bewiesen werden. Gentlemen?“

„Nun gut“, meinte der Bürgermeister, „aber Miss … äh, die junge Dame hier hat noch nicht ausgesagt.“

Turner presste die Lippen aufeinander. „Nein“, erwiderte er kurz angebunden. „Aber wir müs-sen sie auch nicht anhören, da es nur das bestätigt, was wir gerade eben herausgefunden ha-ben. Die Dame“, er sah Miranda scharf an“, muss sich dem nicht aussetzen.“

„Das kann nicht Ihr Ernst sein, Turner. Vielleicht hat der Junge diesen speziellen Laib Brot nicht gestohlen“, sagte der Bürgermeister. „Aber er hat mit Sicherheit etwas auf dem Kerbholz. Vor Bäckereien herumlungern, billy-dus abliefern. Wir können ihn nicht einfach laufen lassen.“

Lord Justice wandte sich an den Bürgermeister. Miranda hatte erneut dieses Gefühl – dass er auf einer Bühne hätte stehen können, so großartig war sein Gespür für den richtigen Moment.

„Wie merkwürdig“, erklärte er schließlich. „Ich war der Meinung, dass es unsere Pflicht ist, dar-über zu entscheiden, ob die Anklagepunkte bewiesen werden konnten. Ich erinnere mich sehr gut an die Anklageschrift, und dennoch erinnere ich mich nicht daran, dass dem Jungen illega-ler Brieftransport zur Last gelegt wurde.“

Der Bürgermeister errötete und wandte den Blick ab. „Tun Sie, was Sie wollen, Turner. Wenn Sie darauf bestehen, den Abschaum laufen zu lassen, kann ich Sie vermutlich nicht daran hin-dern.“

Lord Justice lächelte dünn. „Sie haben den Mann gehört. Master Widdy, Sie dürfen gehen.“

Miranda wagte nicht, nach Luft zu schnappen, doch sie hielt sich aufrecht. Dennoch war sie erleichtert. Gott sei Dank! Er hatte sie nicht durchschaut. Diesmal hatte sie kaum mit ihm spre-chen müssen. Sie hatte überlebt. Sie fühlte sich, als wäre sie nach einem Rückwärtssalto sicher auf dem Pferderücken gelandet, und sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Doch gerade als das Stimmengewirr lauter wurde, hielt Lord Justice eine Hand empor.

„Miss …“ Er hielt inne. „Whitaker, sagten Sie?“ Er schürzte die Lippen.

Mirandas Besorgnis steigerte sich erneut. „Ja, Euer Ehren?“

„Auf dem Weg zum Lamb Inn liegt der Markt. Eine junge Dame sollte nicht unbegleitet durch diese Straßen voller Gesindel gehen. Es gibt Taschendiebe. Und Schlimmeres.“

„Wenn ich jetzt gehe, Euer Ehren, bin ich zurück, bevor mein Vater wiederkehrt.“

Er trommelte erneut mit den Fingern auf die Richterbank. „Ich begleite Sie zu Ihrer Unterkunft, wenn Sie ein paar Minuten im Vorraum warten.“

Oh Gott! Was für ein grauenvoller Vorschlag! „Euer Ehren, ich s…sollte Sie nicht von Ihren Pflichten abhalten.“

Er seufzte. „Diesbezüglich sind wir absolut einer Meinung. Nichtsdestotrotz.“

Bevor sie noch etwas sagen konnte, gab er ein Zeichen, und der Schreiber ließ den Hammer auf den Tisch fallen. Die Menge erhob sich, und auch die Friedensrichter standen auf. Miranda wollte weglaufen. Sie wollte schreien. Doch sie wagte es nicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken – nicht hier, nicht in der Nähe der Polizisten und der Friedensrichter.

Der Gerichtsschreiber sprang auf und beeilte sich, die hintere Tür zu öffnen. Die anderen Rich-ter wandten sich ab und traten einer nach dem anderen aus dem Saal.

Turner war der Letzte, der den Saal verließ. Seine schwarze Robe umwehte ihn und ließ ihn wie einen dunklen Engel erscheinen. Doch der Schreiber hielt die Tür immer noch auf, nach-dem Lord Justice hindurchgegangen war, als wartete er auf einen weiteren Richter. Und tat-sächlich, ein Hund erhob sich unter der Richterbank und lief auf die Tür zu. Miranda hatte ihn vorher nicht bemerkt. Er musste während der Verhandlungen ruhig unter der Bank gelegen ha-ben.

Der Hund, der ihr bis zum Knie ging, bestand hauptsächlich aus weißem und grauem Fell. Er folgte Turner nach, ebenso würdevoll und alterslos wie sein Herr. Er blieb an der Türschwelle stehen und blickte sich um. Sie konnte unter all dem Fell nicht einmal seine Augen erkennen. Trotzdem fühlte es sich so an, als schaute er Miranda an und befehle ihr, zu warten, bis Lord Justice sich um sie kümmerte. Sie erschauerte kurz, und das Tier wandte sich ab.

Sie bildete sich das sicher nur ein.

Und es war typisch für ihr Glück, dass Seine Ehren ausgerechnet heute zuvorkommend sein wollte. Sie konnte sich nicht von ihm begleiten lassen. Es gab keinen Gutsbesitzer, kein gemüt-liches Inn. Es gab nur ihre kalte Dachkammer, und wenn er wüsste, dass die goldblonden Lo-cken eine Perücke waren und ihr Kleid ein Kostüm …

Miranda schluckte. Sie brauchte keine Gerechtigkeit. Sie musste den Saal verlassen – und zwar schnell.

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