Erscheinungsdatum: 22.8.2016
Originaltitel: „A Right Honorable Gentleman“
„Wenn ich [Milans] Bücher lese, weiß ich, dass nicht nur etwas Gutes auf mich zukommt, sondern etwas Hervorragendes, Außergewöhnliches und Tiefgründiges.“
Aus Kapitel Eins
Von der Diele im zweiten Stock aus konnte Miss Catherine Hooks die Fenster aller anderen Häuser am Grosvenor Square sehen. Es war lange nach Mitternacht, und natürlich waren alle anderen Behausungen dunkel. Die Bewohner schliefen.
Nicht so in diesem Haus. Die Öllampen entlang des Flures brannten fröhlich. Von unten drangen die letzten Geräusche des Tages die Treppe hinauf: das Fegen des Besens über den Boden, die scharfe Stimme der Haushälterin, die Anweisungen gab, das Klirren von Silberbesteck, das der Butler zurück in die Schatulle sortierte.
Cat selbst hatte noch eine letzte Aufgabe zu erledigen, bevor sie sich zurückziehen konnte. Sie strich mit dem Finger über das Papier in ihrer Hand und ging weiter über den Flur. Sie würde es nicht hinauszögern oder aufschieben. Nein, wenn er vorhatte, sie einzuschüchtern …
Ein Stück vor ihr öffnete sich eine Tür. Cat stockte der Atem – aber es Mrs Walters, die Köchin, die hinausstolperte. Nicht er. Mrs Walters’ Gesicht zeigte ein gezwungenes Lächeln, und sie biss erkennbar die Zähne zusammen. Sobald sie die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte, verschwand jeglicher Anflug von Freundlichkeit aus ihrer Miene. Sie legte sich die Finger an die Schläfen, und ihre Augen, von den ergrauenden Locken halb verborgen, die unter ihrer weißen Haube hervorlugten, schlossen sich bebend.
Cat trat zu ihr. „Ist er heute Abend so schlimm?“
Mrs Walters Lippen wurden schmal. „Grässlich. Ich habe es so sehr versucht – ich habe alles richtig gemacht. Ich war mir so sicher, er könnte für das Dinner nichts als Lob …“
„Sie wissen, wie er ist“, flüsterte Cat beschwichtigend. „Er ist für ganz England verantwortlich. Manchmal … vergisst er, dass es nicht immer um das Land geht. Morgen ist er besserer Laune.“ Das war er meistens.
Ein Zittern durchlief die Köchin. „Oh, Miss Hooks.“ Sie ließ den Kopf in die Hände sinken. „Er hat mich entlassen.“
Cat starrte sie entsetzt an. „Was?“
„Gehen Sie nicht hinein – er ist in düsterer Stimmung.“
Cat hätte Angst haben sollen. Sie kannte die Launen ihres Arbeitgebers so gut wie jeder der insgesamt acht Dienstboten, die Mr Glennons Haus in Ordnung hielten. Aber der Gedanke an Mr Glennon in einer seiner düsteren Launen sandte einen kleiner Schauer durch sie. Einer, der nur sehr wenig mit Angst zu tun hatte.
„Kommen Sie“, sagte Mrs Walters. „Er wird Sie noch nicht gehört haben. Gehen Sie leise wieder dahin zurück, wo Sie hergekommen sind, und er wird nichts davon erfahren.“
Cat hielt das Blatt Papier in ihrer Hand hoch. „Das kann ich nicht. Ich habe …“
Abrupt ging hinter ihnen die Tür auf.
„Sie ist herbestellt“, verkündete eine tiefe mitleidlose Stimme. „Wenn Sie über mich schon klatschen wollen, seien Sie doch bitte so gut und tun Sie das unten, wo ich nicht jedes Wort mit anhören muss.“
Mrs Walters zuckte zusammen. Cat drehte sich zu ihrem Arbeitgeber um. Der Sehr Ehrenwerte Mr Edward Glennon stand in der Tür, ragte über ihr auf. Zuerst sah sie seine Augen, schwarz und durchdringend, sein Blick scharf und erbarmungslos wie eine Klinge aus Eis. Sein Haar war graumeliert, sein Mund missbilligend verzogen. Er sah, dass Cat ihn anstarrte, und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Und, Hooks?“, verlangte er zu wissen. „Wollen Sie hier wie ein verdutztes Hündchen stehen bleiben, oder kommen Sie herein?“
Ein verdutztes Hündchen? Cat betrachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen.
Von hinten drückte Mrs Walters ihr sanft den Arm. Cat reckte das Kinn und betrat den Raum.